Die Hamburger Afrikanistik: Gründung, Aufbau und frühe Errungenschaften
Die Wurzeln der Afrikanistik liegen noch vor der Epoche des Kolonialismus im Zeitalter der Entdeckungen und waren primär von humanitären Motiven getragen, d.h. der christlichen Missionierung und der Abschaffung der Sklaverei. Erste Analysen afrikanischer Sprachen, noch nach lateinischem Modell konzipiert, entstanden seit dem 17. Jahrhundert, so z.B. die erste Grammatik des Kikongo 1659 durch den Kapuzinermönch Giacinto Brusciotto.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stieg das Interesse an der Dokumentation und Analyse afrikanischer Sprachen jenseits theologisch-orientalistischer Kreise in Europa deutlich an, als – über die Küstengebiete Afrikas hinaus – auch zunehmend das Inland durch europäische Reisende wie Mungo Park, David Livingstone, Richard Francis Burton, John Hanning Speke, Gustav Nachtigal und Albrecht Roscher geo- und ethnographisch erkundet wurde. Für Hamburg ist hier insbesondere Heinrich Barth (1821-1865) zu nennen, Sohn eines Hamburger Kaufmanns, der mit seinen methodisch akkuraten Studien der westafrikanischen Sprachen Hausa, Kanuri und Songhay als ein Vorläufer der Hamburger Afrikanistik gelten kann.
Im Rahmen des Missionsprojekts war es insbesondere in der lutherischen Tradition für die nachhaltige Verbreitung des Evangeliums unerlässlich, christliche Basisliteratur, z.B. Bibel und Katechismus, in die afrikanischen Zielsprachen zu übersetzen – die allerdings in Wortschatz und Aufbau noch völlig unbekannt waren. Daher mussten Missionare hier zunächst die notwendigen Grundlagen schaffen: die lokalen Sprachen erlernen, ihre lexikalischen und grammatischen Strukturen analysieren und sie im Rahmen einer Standardisierung „auf Schrift reduzieren“. Auch die Hamburger Afrikanistik ist in ihren Anfängen sehr eng mit der Missionierung verbunden. So trug z.B. der erste Lehrstuhlinhaber, Carl Meinhof, während seiner ursprünglichen Tätigkeit als Lehrer und Pastor im Kontakt zu Missionarskindern Sprachdaten zusammen, die später die Grundlage seiner Bahn brechenden vergleichenden Lautlehre und Grammatik der Bantusprachen (Meinhof 1899, 1906) bildeten.
Während die Beschäftigung mit afrikanischen Sprachen durch linguistische Laien, in erster Linie Entdeckungsreisende und Missionare, bis in das 16. Jahrhundert zurückreicht, fällt die akademische Etablierung des Fachs „Afrikanistik“ im Sinne einer Linguistik afrikanischer Sprachen in das 19. Jahrhundert und ist hier eng mit den kolonialen Aspirationen Westeuropas, insbesondere in England, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Belgien, verknüpft.[1] Nachdem im Laufe des 19. Jahrhunderts auch deutsche Kaufleute Handelsbeziehungen entlang Afrikas Küsten und ins Hinterland aufgebaut hatten, ging es dem Deutschen Reich im Gefolge der Berliner Konferenz 1884/85 darum, seine wirtschaftlichen Einflussbereiche in Afrika mit der Kolonisierung von Togo (1884), Kamerun (1884), „Deutsch-Südwestafrika“ (1884) und „Deutsch-Ostafrika“ (1890/91) abzusichern. Da der Aufbau einer funktionsfähigen Kolonialverwaltung die Kenntnis lokaler Sprachen wie z.B. Ewe, Duala, Herero, Nama und Swahili erforderte, entstand hier ein großer Bedarf an Sprachausbildung für angehende Kolonialbeamte, Militärpersonal der sogenannten Schutztruppen, Kaufleute und Landwirte. Diese Aufgabe fiel zunächst dem 1887 gegründeten Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin zu, wo auch Carl Meinhof, der spätere erste Lehrstuhlinhaber in Hamburg, als Sprachlehrer tätig war. Beschränkt auf die praktische Ausbildung in einigen der großen Verkehrsprachen Afrikas, unterblieb dort aber – mit Hinweis auf einen vermeintlich fehlenden Nutzen – eine wissenschaftlich fundierte Erforschung afrikanischer Sprachen, die diese Spachen – über die utilitaristische Vermittlung von Sprechfertigkeiten hinaus – als Instrumente des Denkens und künstlerischer Gestaltung, als Ressourcen von Wissen und als Quelle für grundlegende Erkenntnisse nicht nur über die ungeschriebene Geschichte Afrikas, sondern auch über den Bau menschlicher Sprachen und die Funktionsweise menschlichen Denkens ernst nahm. Nachdem nun Rückschläge in der Kolonialpolitik in zunehmendem Maße auf die unzureichende Ausbildung der deutschen Kolonialbeamten zurückgeführt werden mussten, reifte allmählich die Einsicht, dass eine Verbesserung der Sprachausbildung nur zu erzielen sei, indem sie auf eine solide wissenschaftliche Grundlage gestellt würde. Ein Kolonialinstitut, das entsprechende Aufgaben übernehmen konnte, wurde 1908 in Hamburg gegründet, nachdem es Bürgermeister Werner von Melle gelungen war, dieses ursprünglich für Berlin vorgesehene Projekt im Rahmen seiner Pläne einer Universitätsgründung abzuwerben. 1909 schließlich wurde Carl Meinhof (1857-1944) am Seminar für Kolonialsprachen dieses Hamburger Kolonialinstituts auf den weltweit ersten Lehrstuhl für afrikanische Sprachen berufen.
Als ausgebildeter Pastor und Gymnasiallehrer hatte Meinhof früh eine Neigung zur vergleichenden Sprachwissenschaft entwickelt. Sein besonderer Draht zu afrikanischen Sprachen entstand durch den Kontakt zu Missionarskindern, die mit den Sprachen der Arbeitsgebiete ihrer Eltern aufgewachsen waren und daher als Informanten herangezogen werden konnten. Darüber hinaus hatte er auch als Deutschlehrer für einen Jungen aus Kamerun in zeitweiliger Umkehrung der Rollen Daten zu verschiedenen Kameruner Bantusprachen, i.e. Duala, Isubu und Benga, erhoben und über diese seine ersten wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht – ohne dabei jemals zuvor in Afrika gewesen zu sein.
Dank herausragenderer persönlicher Forschungsleistungen, organisatorischen Geschicks im Anwerben von Personal und im Aufbau von institutioneller Forschungsinfrastruktur sowie auch kraft seiner öffentlichkeitswirksamen und interdisziplinären Umtriebigkeit verhalf Meinhof der Hamburger Afrikanistik zu höchstem internationalen Ansehen und sicherte ihr auf Jahrzehnte hinaus eine Spitzenposition, auf der sie erst nach dem 2. Weltkrieg durch die – inzwischen finanziell und personell wesentlich besser ausgestattete – britische Afrikanistik an der School of African and Oriental Studies (SOAS) in London abgelöst wurde.
Was die Forschung betrifft, so stellte Meinhof mit seinen Arbeiten zur vergleichenden Bantuistik die Afrikanistik auf eine solide methodische Grundlage und setzte für die junge Disziplin neue Maßstäbe. In „Grundriß einer Lautlehre der Bantusprachen“ (11899, 21910, 31933) und „Grundzüge einer vergleichenden Grammatik der Bantusprachen“ (11906, 21948)[2] hatte er die Methoden der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, wie sie seit Beginn des 19. Jahrhunderts an den indoeuropäischen Sprachen entwickelt worden waren, auf die Bantusprachen Afrikas übertragen und das Lautsystem, die grammatische Struktur und große Teile des Vokabulars des Ur-Bantu, des hypothetischen Vorläufers aller modernen Bantusprachen, rekonstruiert – ein absolutes Novum, da afrikanische Sprachen bis dahin aufgrund einer meist fehlenden Schrifttradition grundsätzlich für minderwertig und geschichtslos gehalten wurden. Meinhofs herausragende Leistung besteht hier in zweierlei: zum einen gelang es ihm, afrikanische Sprachen in die vergleichende sprachwissenschaftliche Forschung einzuführen und ihnen zu wissenschaftlicher Würde zu verhelfen, indem er zeigte, dass sie nach denselben Prinzipien des Sprachwandels funktionierten, wie sie in den Sprachen mit langer Schrifttradition zu beobachten sind. Zum zweiten schloss er die Sprachen Afrikas an die allgemeine Sprachwissenschaft und die Sprachtypologie an, indem er in ihnen eine Fülle von Phänomenen nachwies, z.B. die Vielfalt nominaler Klasseneinteilungen und die grammatisch und lexikalisch distinktive Rolle des musikalischen Tons, die in den damals bekannten – im wesentlichen indoeuropäischen – Sprachen nicht existieren.
In krassem Kontrast zu seinen innovativen Leistungen in der Bantuistik steht Meinhofs Engagement für die sogenannte Hamitentheorie, ein bizarres akademisches Kind von kolonialpolitischer Mutter und rassistisch-chauvinistischem Vater. In Abkehr von seinen methodisch abgesicherten Rekonstruktionen des Proto-Bantu, vermengte Meinhof hier in unzulässiger Weise weit ausholende sprachtypologische Vergleiche mit zweifelhaften ethnologischen und anthropologischen Vorannahmen und versuchte – unter simplizistischer Gleichsetzung von Sprache und Volk – eine hypothetische prähistorische Bevölkerungsgruppe „hamitischer“ Invasoren nachzuweisen, die im Besitz einer überlegenen Wirtschaftsform (Hirtennomadismus), Waffentechnologie und Kultur die einheimischen „urafrikanischen“ Bevölkerungsgruppen unterjochten und in diesem Zuge deren „unterentwickelten“ Sprachen grammatische Strukturen aufprägten, die als höher entwickelt angesehen wurden, i.e. die Einteilung von Nomina in ein sexus-basiertes Genussystem und ein umfassender fusionaler Charakter. Auch wenn sich Meinhof in seinen übrigen Arbeiten weitgehend frei von Vorurteilen, z.B. der damals populären romantischen Fixierung auf Ursprünglichkeit und dem Bild von Afrikanern als den geschichts- und kulturlosen „edlen Wilden“, zeigt, so wird hier deutlich, dass er sich doch nicht vom Zeitgeist befreien konnte – wohnt doch der Hamitentheorie die Vorstellung inne, dass Afrika kulturell, wirtschaftlich, politisch und sogar sprachlich den von außerhalb Afrikas eingewanderten „Hamiten“ unterlegen sei. Vermutlich aufgrund der Hochachtung vor Meinhof und seinen Meriten in der Bantuisitik wurde diese Hamitentheorie, als pseudowissenschaftlicher Reflex zur Legitimation des kolonialen Projekts, niemals explizit widerlegt, sondern stillschweigend ignoriert – was auch das Klügste scheint in Anbetracht des hanebüchenen Eindrucks, den sie nach Abzug der rassistischen Vorannahmen macht.
Meinhof traf weiterhin zwei Infrastrukturmaßnahmen, die den Wirkungskreis der Afrikanistik deutlich vergrößerten. So gründete er 1910 das Phonetische Laboratorium, das dazu diente, die phonetischen Grundlagen außereuropäischer Sprachen, insbesondere afrikanischer, in enger Kooperation mit afrikanischen Mitarbeitern zu erforschen. 1919 wurde das Phonetische Laboratorium eigenständiges Universitätsinstitut und erhielt 1922 eine planmäßige Professur, die Giulio Panconcelli-Calzia übertragen wurde. Unter seiner Leitung erlangte das Laboratorium Weltruhm und blieb auch durch seine Nachfolger wie z.B. Otto von Essen, Hans-Heinrich Wängler und Elmar Ternes mit der Afrikanistik eng verbunden. Mit Auflösung der Abteilung für Phonetik, Allgemeine Sprachwissenschaft und Indogermanistik wurde dieser renommierte phonetische Arbeitsbereich leider Opfer der Hamburger Sparpolitik.
Des weiteren gründete Meinhof 1910 eine afrikanistische Fachzeitschrift, die mit ihrem 108jährigen Erscheinen in 92 Nummern als das älteste, afrikanischen Sprachen gewidmete Publikationsorgan weltweit gelten kann. Ihre wechselvolle Geschichte spiegelt sich in einer Reihe von Umbenennungen: 1910 als „Zeitschrift für Kolonialsprachen“ gegründet und 1919 nach Verlust des deutschen Kolonialbesitzes in „Zeitschrift für Eingeborenensprachen“ umbenannt, wird sie seit 1950 bis heute als „Afrika und Übersee – Sprachen und Kulturen“ an der Abteilung herausgegeben und veröffentlicht Artikel sowie ausführliche Buchbesprechungen in drei Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch) aus inzwischen über 30 Ländern, mit dem subsaharischen Afrika als geographischem Schwerpunkt. Sie ist dem gesamten Spektrum afrikanistischer Themen verpflichtet, dabei besonders bemüht, wertvolle sprachliche Primärdaten, jedoch auch theoretisch-methodisch orientierte Arbeiten zu publizieren.
Von Beginn seiner Berufung an tat Meinhof viel, um die Ziele und Methoden der Afrikanistik auch einer interessierten Öffentlichkeit darzustellen, so z.B. in seinen „Hamburger Vorträgen“ (1909-1912) zur Dichtung, zu den Religionen und den Rechtsvorstellungen in Afrika. Seine Reihe über die afrikanische Sprachwissenschaft bildete für Jahrzehnte die international herrschende Lehrmeinung zur Klassifikation der afrikanischen Sprachen und wurde erst 1963 durch Joseph Greenbergs Klassifikation abgelöst.
Sehr enge Verbindungen pflegte Meinhof zur Mission, insbesondere zu evangelischen Missionsgesellschaften. Er nahm oft selbst mit eigenen Beiträgen an Missionstagungen teil. Missionare prägten die Lehre und nutzten die „Zeitschrift für Kolonialsprachen“ und ihre Beihefte zur Publikation von Grammatiken und Wörterbüchern zu Sprachen ihres Tätigkeitsfelds in Afrika, z.B. zum Shambala, Sotho, Duala, Nyamwezi, Herero, Bankon, Bergdama, Safwa, Nyika.
Was das Personal betrifft, so gelang es Meinhof, zur Bewältigung der umfangreichen Aufgaben der Sprachlehre und zur breiteren Ausrichtung der Forschung eine Reihe von tüchtigen MitarbeiterInnen ans Seminar zu ziehen: August Klingenheben (ab 1911), seinen späteren Nachfolger; Martin Heepe, der ab 1911 den Swahili-Unterricht übernahm, sich auf Ewondo („Jaunde“), eine Kameruner Bantusprache, spezialisierte und hier u.a. von den „Sprachgehilfen“ Karl Atangana (1913/14) und Paul Messi (1914-20) verfasste Texte herausgab; Maria von Tiling, die ab 1917/18 Swahili unterrichtete und sich auf die Sprachen des Horns von Afrika, Somali und Oromo, spezialisierte; Ernst Zyhlarz, der ab 1930 Alt- und Neuägyptisch, Koptisch, Nubisch und Berberisch vertrat; Ernst Dammann, ab 1930 für Bantuistik, insbesondere Swahili, zuständig; Emmi Kähler-Meyer, ab 1933 ebenfalls auf Bantusprachen, insbesondere Swahili und Duala, spezialisiert; und Johannes Lukas, der sich ab 1934 des Kanuri und des Hausa annahm.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs und Verlust der deutschen Kolonien musste sich die deutsche Afrikanistik frühzeitig wieder von den praxisnahen Betätigungsfeldern lösen. Das „Seminar für Kolonialsprachen“ wurde als „Seminar für afrikanische und Südseesprachen“ in die 1919 gegründete Universität überführt und erhielt somit Promotions- und Habilitationsrecht. Der erste Habilitierte der Universität Hamburg war 1920 der Afrikanist Otto Dempwolff, der spätere Direktor des 1930/31 aus dem Afrikanischen Seminar ausgegliederten „Seminar für Indonesische und Südseesprachen“. Der erste Promovierte der Afrikanistik war 1924 Werner Eiselen, ein Missionarssohn, der später als Entwickler des Konzepts der diskriminierenden „Bantuerziehung“ innerhalb des Apartheidsystems in Südafrika negativ in Erscheinung trat.
[1] Eine integrierende Gesamtdarstellung der Entstehung und Entwickung des Fachs Afrikanistik in den westeuropäischen Ländern mit kolonialer Vergangenheit liefert Kießling (2019).
[2] Die herausragende Bedeutung dieses Werks belegt auch die Tatsache, dass es neben der dreifachen Auflage als vermutlich einziges deutschsprachiges afrikanistisches Werk ins Englische übersetzt worden ist (1932).