Rolle und Relevanz der Afrikanistik
Rolle und Relevanz der Afrikanistik
In ihren praktischen Anwendungen ist die Afrikanistik seit ihren Anfängen aus der Rolle eines Dienstleisters für das koloniale Projekt heraus- und in die Rolle eines Ratgebers hineingewachsen, der die politischen Entscheidungsträger in Afrika und Europa über grundlegende Konzepte des Managements sprachlicher Diversität aufklärt, sowohl im Hinblick auf nachhaltige Entwicklung als auch auf den Prozess der nationalen Integration. Traditionelle Aufgabenbereiche wie die einzelsprachliche Grundlagenforschung, die Dokumentation bedrohter Sprachen und die Sprachklassifikation haben nichts an Aktualität eingebüßt, doch sind seit den 1990ern darüber hinaus die sozialen, kulturellen und politischen Dimensionen afrikanischer Sprachen sehr viel deutlicher in den Vordergrund gerückt und definieren die Afrikanistik als Disziplin, die dem Studium der Kommunikation in afrikanischen Sprachen im weitesten Sinne gewidmet ist.
Als Ausdrucksformen menschlicher Sinngebung und Instrumente der Produktion von Wissen gehören afrikanische Sprachen und Kulturen eben nicht nur zum bedrohten Kulturerbe der Menschheit. Sie werden unentbehrlich, wenn es darum geht, afrikanische Menschen zu verstehen und als Partner an globalen Entwicklungen teilhaben zu lassen. Auch wenn rein ökonomische Maßstäbe angelegt werden, kann auf ihre Erforschung und ihren Ausbau nicht verzichtet werden, weil gegenwärtige Sprachpolitiken nach wie vor die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung afrikanischer Länder von jeder Teilnahme am modernen Staatsleben ausschließen. Das hat verheerende Folgen für Wirtschaft, Gesundheit und Politik: für die Wirtschaft, weil ein Großteil der Bevölkerung an Produktionsweisen festhält, die die Arbeitskraft vieler Menschen über Gebühr beanspruchen, obgleich alternative Produktionsweisen zur Verfügung stehen. Nur fehlt der Mehrheit der Zugang dazu, weil die entsprechende Bildung fehlt. Die Bildung wiederum fehlt, weil das dafür notwendige Wissen nach wie vor überwiegend in Sprachen wie Englisch, Französisch oder Portugiesisch vermittelt wird, die die Mehrheit der Bevölkerung, vor allem die Schulkinder, nicht in ausreichendem Maße versteht, geschweige denn beherrscht. Für die Gesundheit hat dies gravierende Folgen, weil das notwendige Wissen, um sich gegen Malaria, HIV/AIDS und andere Krankheiten zu schützen, ebenfalls noch primär über die Ex-Kolonialsprachen vermittelt wird. Erforschung, Erhalt und Ausbau afrikanischer Sprachen sind somit ein wichtiger politischer Beitrag zur Ermächtigung der betroffenen Gruppen, am Weltwissen teilzuhaben – eine Vorbedingung für nachhaltige Entwicklung bzw. die Beseitigung von Hürden der Benachteiligung. Nur so können makropolitische Projekte wie die Bekämpfung von extremer Armut, Hunger und Krankheit, Grundschulbildung für alle, die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frauen, Gesundheitsversorgung, Demokratisierung und Korruptionsbekämpfung, Umweltschutz und ökologische Nachhaltigkeit sowie der Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft gelingen. Hier liegt die hohe Relevanz der Afrikanistik in ihrer Hamburger Ausprägung, die sich als die Wissenschaft von den afrikanischen Sprachen in allen Erscheinungsformen und von ihren gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Bedingungen und Gebrauchsweisen begreift und die die Sprachen als Schlüssel sieht, um die innerafrikanischen Perspektiven auf die Dinge zu erschließen. In ihren Spezialisierungen auf die Sprachanalyse und die Kontexte von Kommunikation produziert und vermittelt sie unentbehrliches Grundlagenwissen zu den Bereichen, in denen spezifisch afrikanischer Sinn hergestellt wird.
"Causa Nooke"
Im Oktober 2018 gab der persönliche Afrikabeauftragte des Bundeskanzlerin, Günter Nooke, der Berliner Zeitung B.Z. ein Interview, das bundesweit Aufsehen erregte. In diesem Interview erklärt Nooke sozioökonomische Zustände in Afrika vornehmlich als Resultate der "Andersartigkeit" afrikanischer Gesellschaften, die etwa durch "Clan-Strukturen", hohe Geburtenraten und klimatisch bedingte Unproduktivität geprägt seien. Die kausale Bedeutung kolonialer Eingriffe für die Entwicklung afrikanischer Gesellschaften wird von Nooke als zivilisatorische Maßnahme umgedeutet ("die Kolonialzeit [hat] dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen") und relativiert ("der Kalte Krieg hat Afrika mehr geschadet als die Kolonialzeit"). Als Ansatz neuer deutscher Afrikapolitik schlägt Nooke exterritoriale Pachtgebiete in Hoheitsgebieten afrikanischer Staaten vor, in denen mithilfe von EU oder Weltbank Wirtschaftssonderzonen zur Rückführung von Migranten entstünden.
Insbesondere zivilgesellschaftliche Initiativen, aber auch politische Parteien kritisierten Nookes Äußerungen scharf und forderten seinen Rücktritt. Stimmen aus der Wissenschaft, die sich zu dem Vorfall äußerten, waren rar. Position zu dem Vorfall hat allerdings die afrikanistische Fachgesellschaft „Fachverband Afrikanistik e.V.“ bezogen. Ein vom Kölner Institut für Afrikanistik initiiertes und vom Fachverband Afrikanistik unterstütztes kritische Schreiben zu dem B.Z.-Interview war Auslöser eines weiteren Skandals um den Afrikabeauftragten Nooke. Nachdem die Hamburger Juniorprofessorin und Fachverbands-Vorsitzende Raija Kramer das Schreiben an das Bundeskanzleramt und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) versandte, wurden die kritischen Wissenschaftler*innen des Fachverbands Afrikanistik im Februar 2019 zu einem Gespräch in das BMZ eingeladen. Dort sollten sie eine bereits vorformulierte Entlastungserklärung für Nooke unterzeichnen. Als sie sich dieser Maßnahme verweigerten, wurde der Vorsitzenden Kramer mit negativen Auswirkungen auf ihre akademische Laufbahn gedroht.
Links:
B.Z.-Interview: https://www.bz-berlin.de/deutschland/afrikabeauftragter-guenter-nooke-der-kalte-krieg-hat-afrika-mehr-geschadet-als-die-kolonialzeit
Presse:
B.Z., 13.02.2019 (https://www.bz-berlin.de/berlin/kolumne/rassismus-pruefer-verhoeren-den-afrika-beauftragten-guenter-nooke)
welt, 13.02.2019 (https://www.welt.de/politik/deutschland/article188761705/Vorwuerfe-gegen-Guenter-Nooke-Darf-man-Afrika-archaisch-nennen.html)
Neues Deutschland, 14.02.2019 (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1112295.afrikabeauftragter-guenter-nooke-und-der-braune-brief.html)
heise online, 16.02.2019 (https://www.heise.de/tp/features/Duerfen-Wissenschaftler-Politiker-zum-Ruecktritt-auffordern-4310739.html)
taz, 13.02.2019 (http://www.taz.de/!5570147/)
jungle world, 22.02.2019 (https://jungle.world/artikel/2019/08/wissenschaftler-verweigern-den-dienst)
taz, 25.02.2019 (http://www.taz.de/!5575963/)
Spiegel ONLINE, 27.02.2019 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/guenter-nooke-afrikabeauftragter-der-bundesregierung-von-despoten-lernen-a-1254316.html)