Inhaltliche Neuorientierung, neue Strukturen und neue Relevanzen
Inhaltliche Neuorientierungen, neue Strukturen und neue Relevanzen
Zwei Wellen makropolitischer Umwälzungen übten seit den 1960er Jahren einen nachhaltigen Einfluss sowohl auf die Strukturen als auch auf die Inhalte der Hamburger Afrikanistik aus: die politische Unabhängigkeit großer Teile Afrikas und die Studentenunruhen in Europa.
Die politische Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten führte – im Verein mit der von Studenten und Assistenten nachdrücklich eingeforderten breiteren gesellschaftlichen Relevanz von Forschungs- und Lehrinhalten – dazu, dass in der Afrikanistik neben der strukturlinguistischen Grundlagenforschung und ihren kulturwissenschaftlichen Implikationen stärker als zuvor auch sprachsoziologische und sprachpolitische Themen berücksichtigt wurden. So griffen H. Ekkehard Wolff und Ludwig Gerhardt seit den späten 1970er Jahren zunehmend Fragen wie die nach der Rolle afrikanischer Sprachen im Bildungssystem sowie regionaler und überregionaler Verkehrssprachen in gesamtafrikanistischer Perspektive auf. Die dringliche Notwendigkeit der nationalen Integration der frischgebackenen multilingualen Staaten Afrikas eröffnete der Afrikanistik eine Vielzahl neuer, gesellschaftlich hochrelevanter Forschungs- und Praxisfelder, vor allem im Kontext von sprachlicher Status- und Korpusplanung, die seit den 1990er Jahren – auch in Kooperation mit dem Hamburger UNESCO-Institut – durch Mechthild Reh und in ihrer Nachfolge von Henning Schreiber gepflegt und intensiviert werden und als soziolinguistischer Strang fest im afrikanistischen Curriculum und Forschungsprogramm verankert sind.
Die Hamburger Studentenunruhen und die Abkehr von der Ordinarienuniversität krempelten auch das äußere Umfeld der afrikanistischen Forschung und Lehre gewaltig um. Die Denkmäler der Kolonial„helden“ Dominik und Wissmann vor dem Hauptgebäude der Universität wurden gestürzt. Die Studenten forderten Einblick in die Finanzverhältnisse des Seminars, der ihnen zähneknirschend gewährt wurde – und Mitbestimmung bei der Wiederbesetzung des Lehrstuhls, die ihnen selbstverständlich verweigert wurde. Im Gegenentwurf zur als unzeitgemäß empfundenen „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ wurde unter Beteiligung der Hamburger Afrikanistik die „Vereinigung von Afrikanisten in Deutschland“ (VAD) gegründet. 1970 tagte der erste Institutsrat der Afrikanistik, die nach Auflösung der als monströs empfundenen Philosophischen Fakultät dem Fachbereich Orientalisitik zugeordnet war. Eine neue fachbereichsbezogene Magisterordnung eröffnete nun die Möglichkeit eines Abschlusses vor der Promotion und markiert somit die Einführung einer verbindlichen Studienstruktur.
1975 trat Ludwig Gerhardt die Nachfolge Vorbichlers an. 1967 mit einer vergleichenden Arbeit über die zentralnigerianischen Plateausprachen promoviert, hatte er sich 1974 mit einer weiterführenden Studie zum Thema habilitiert. Er weitete den Fokus über die mit dieser Professur verbundene engere Bantuistik hinaus auf die mit den Bantusprachen Ost- und Südafrikas weitläufig verwandten Niger-Kongo-Sprachen Westafrikas aus.
Mit H. Ekkehard Wolff, der 1983 auf eine dritte Professur übergeleitet wurde, waren wieder Forschungs- und Lehrbereiche vertreten, die seit Lukas’ Ausscheiden weitgehend verwaist waren: die tschadischen und die saharanischen Sprachen sowie zudem das Berberische. Wolff war 1972 mit einer Studie über das Verbalsystem des Lamang, einer zentraltschadischen Sprache, promoviert worden und hatte sich 1980 mit einer umfassenden Monographie über dieselbe Sprache habilitiert. Er etablierte eine theoretisch und methodisch abgesicherte Tonologie in der Hamburger Afrikanistik und nahm so eine Linie auf, die bereits seit Kähler-Meyer und Lukas angelegt war. Durch seine Arbeit über die Sprachkunst der Lamang trug er ebenfalls zur Stärkung der kulturwissenschaftlichen Achse innerhalb der Afrikanistik bei.
Seit den 1970er Jahren prägen in zunehmendem Maße zwei Entwicklungen die Hamburger Afrikanistik: die Intensivierung der Ausbildung und Einbindung afrikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die inneruniversitäre interdisziplinäre Vernetzung, die die bereits bestehenden außeruniversitären internationalen und interdisziplinären Vernetzungen ergänzte.
Infolge des akademischen Ausbaus in den unabhängigen Staaten Afrikas kamen seit den 1970er Jahren erstmals afrikanische Studierende ans Seminar, die die gewonnenen Kenntnisse nach ihrer Rückkehr in die Institutionen ihrer Länder einbrachten. So promovierte im Jahre 1974 hier als erster Afrikaner Leonidas Sibomana, ein ehemaliger Botschaftssekretär aus Ruanda, mit einer Arbeit über das Tonsystem des Kinyarwaanda, seiner Muttersprache, und setzte seine Karriere als Dozent für afrikanische Sprachen und Linguistik in Jos (Nigeria), München und Niamey (Niger) fort. Oft durch den DAAD gefördert, promovierten in Hamburg nach Sibomana u.a. Atah-Ekoué Kangni aus Togo mit einer syntaktischen Analyse des Gen (1989), Nathan Ogechi aus Kenya mit einer Studie zum trilingualen Codeswitching (2002), Evelyn Fogwe-Chibaka aus Kamerun mit einer grammatischen Beschreibung des Meta (2002), Koba Yves-Marie Tognon aus Benin mit einem Vergleich der deutschen und französischen Sprachpolitik in den Kolonien und ihrer Nachwirkungen (2005) und Ibirahim Njoya aus Kamerun mit einer arealtypologischen Studie zu Formen und Funktionen der Teilreduplikation im westlichen Zentralafrika (2015/6).
Auf der Basis internationaler Kooperationen spielten afrikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch eine zunehmend aktive Rolle in der Forschung und der Lehre der Hamburger Abteilung. So wurden Aspekte der Sprachpolitik und Sprachplanung in Afrika im Rahmen von Kollegs durch eine Reihe afrikanischer Gastwissenschaftler thematisiert, z.B. 1979-80 durch Prof. Ayọ Bamgboṣe (Universität Ibadan, Nigeria), 1983/84 durch Prof. E.A. Yoloye, ebenfalls Ibadan, 1983/84 von Dr. Adama Ouane, einem Praktiker der Sprachplanung aus Mali, heute Direktor des Hamburger UNESCO-Instituts, 1989/90 von Prof. Lawrence A. Boadi (Universität Accra, Ghana), 2000/2001 von Prof. Abdul Sheriff (Universität Dar es Salaam, Tansania) und 2010 von Prof. Pius Tamanji (Universität Yaoundé, Kamerun).
Zuvor waren afrikanische MitarbeiterInnen und Mitarbeiter eher in der Rolle von „Sprachgehilfen“ aufgetreten, die die praktische Sprachausbildung besorgten und für Tonbandaufzeichnungen zur Verfügung standen. Sie waren sehr unterschiedlicher Herkunft: Gelehrte und Dichter wie z.B. Hadji Musa ben Adam el Fulani (1911-12) von der Al-Azhar-Universität, Kairo, und Abbé Dr. phil. Alexis Kagame, bekannter Dichter und Philosoph aus Ruanda; Diplomaten wie z.B. Fatima Massaquoi (1931-35), Tochter des liberianischen Generalkonsuls Momolu Massaquoi; Missionsmitarbeiter wie z.B. Victor Toso, der 1912-15 an einer Bibelübersetzung ins Ewe, seine Muttersprache, mitwirkte und für Missionsblätter schrieb; Seeleute wie z.B. der Komore Abdallah bin Wazir (1914-19) und Soldaten wie Mohammed Nur, der als Angehöriger der englischen Armee in Kriegsgefangenschaft geraten war und Maria von Tiling bei ihren Publikationen zur Somali-Sprache unterstützte. Nach ihrer Tätigkeit in Hamburg übernahmen einge dieser „Sprachgehilfen“ wichtige Posten in ihren Herkunftsländern und trugen aktiv sowohl zur Erforschung als auch zum Ausbau ihrer jeweiligen Sprachen bei. So gründete z.B. Ewe-Lektor Gideon Aflissah (1962-65) später in Accra (Ghana) das Diedrich-Westermann-Institut zur Erforschung des Ewe. Der Somali-Dichter Musa Haji Ismail Galaal (1962 DAAD-Stipendiat am Institut) war später im Erziehungsministerium Somalias angestellt, wo er als Ausschussvorsitzender an der Standardisierung des Somali und hier insbesondere auch an der Entwicklung der 1972 eingeführten lateinischen Orthographie des Somali mitarbeitete. Frühere Lektoren spielten überdies nach ihrer Tätigkeit an der Hamburger Abteilung teilweise wichtige Rollen in der Politik ihrer jeweiligen Länder. So machte Karl Atangana, zwischen 1911 und 1913 „Sprachgehilfe“ für Ewondo, im südlichen Kamerun in der Kolonialverwaltung Karriere, und Haile Fida, Lektor für Oromo, und Girma Beshah, Lektor für Amharisch, waren in den frühen 1970er Jahren an der Gründung der äthiopischen Revolutionsbewegung Me’ison entscheidend beteiligt.
Seit den 1990er Jahren ist die Afrikanistik in zunehmendem Maße auch in inneruniversitäre Netzwerke interdisziplinärer Kooperation eingebunden, in denen sie eine aktive, teilweise sogar führende Rolle spielte. So war sie z.B. seit den 1980er Jahren am „Hamburger Zentrum für Mehrsprachigkeit und Sprachkontakte“ (HAZEMS) beteiligt, hat das zwischen 1990-93 eingerichtete Graduiertenkolleg „Mehrsprachigkeit und Sprachkontakte“ sowie den daraus erwachsenen Sonderforschungsbereich 538 „Mehrsprachigkeit“ entscheidend mitgeprägt und war im Anschluss daran an der Landesexzellenzinitiative „Linguistic diversity management in urban areas (LIMA)“ (2009-2013) und der „Offensive Sprachwissenschaft“ (2015-2018) mit eigenen Projekten beteiligt. Der Sonderforschungsbereich 520 „Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung“ (1999-2003) wurde von der Afrikanistik initiiert und koordiniert. Seit 2011 ist die Afrikanistik am Sonderforschungsbereich 950 „Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa“ beteiligt. Im Bereich interdisziplinärer Lehre wurden durch afrikanistische Initiative die afrikabezogenen Kompetenzen der Fächer Geographie und Wirtschaftsgeographie, Mittlere und Neue Geschichte, Politische Wissenschaft, Erziehungswissenschaften, Ethnologie und Archäologie sowie Afrikanistik in einem Nebenfach-Studiengang „Afrika-Studien“ gebündelt.
Nachdem Ekkehard Wolff 1993 einem Ruf nach Leipzig folgte, übernahm Mechthild Reh 1996 hauptamtlich die Professur. 1985 in Köln durch eine deskriptive Grammatik des Krongo, einer nilo-saharanischen Sprache des Sudan, promoviert und 1995 in Bayreuth habilitiert durch eine umfassende monographische Beschreibung des Anywa, einer westnilotischen Sprache, die im Sudan und in Äthiopien gesprochen wird, setzte sie den seit Lukas etablierten nilo-saharanischen Zweig fort. Weiterhin gelang es ihr, die Hamburger Afrikanistik auch sehr viel enger an aktuelle Diskurse der Allgemeinen Sprachwissenschaft und der Sprachtypologie anzuschließen, und trug durch ihre Forschungsinteressen im Bereich der Mehrsprachigkeit, der Multiliteralität, des Sprachkontakts, der Sprachpolitik und der kognitiven Linguistik erheblich zum Ausbau und zur Stärkung der hochrelevanten sozio- und kulturlinguistischen Aspekte innerhalb der Afrikanistik bei. Darüber hinaus betrieb sie intensiv die inneruniversitäre interdisziplinäre Vernetzung, z.B. durch ihre Projekte „Spracherhalt/Sprachverlust in instabilen Situationen: Twi in Deutschland“ innerhalb des Sonderforschungsbereichs 520 und „Mehrsprachige literale Praktiken im Kulturvergleich: Uganda und Bolivien“ innerhalb des Sonderforschungsbereichs 538 „Mehrsprachigkeit“.
Sturz des Wissmann-Denkmals
Das Foto zeigt den ersten Versuch Studierender, das Wissmann-Denkmal vor dem Hauptgebäude der Hamburger Universität zu stürzen. Herrmann Wissmann war zeitweise Oberbefehlshaber der “Schutztruppe” und Gouverneur Deutsch-Ostafrikas. Das Denkmal stand von 1909 bis 1918 in Daressalam. Nach dem Verlust des Ersten Weltkrieges trat Deutschland seine Kolonien ab und so wurde das Denkmal nach Deutschland verfrachtet. 1922 wurde es an der Universität Hamburg neu aufgestellt.
Der Euphemismus “Schutztruppe” bezeichnet militärische Einheiten in den Kolonialgebieten, die die koloniale Ordnung im Sinne der deutschen Kolonisatoren aufrechterhalten sollten. Dies bestand darin, Gruppen, die sich ihrer Kolonialisierung widersetzten, zu bekämpfen.
So schreibt Morlang (2006: 80): “Krieg war in Deutsch-Ostafrika eher der Normal- als der Ausnahmezustand. [...] Der offizielle Gefechtskalender verzeichnet zwischen Mai 1889 und Juni 1910 allein 231 größere militärische Unternehmungen und Gefechte. [...] Demnach hätten in den Kämpfen insgesamt 150 000 Afrikaner ihr Leben verloren. 26 200 seien erschossen worden, der Rest auf der Flucht umgekommen oder als Folge der von der Schutztruppe angewandten Strategie der “verbrannten Erde” verhungert. Die tatsächliche Zahl der Toten dürfte weitaus höher gelegen haben. Einige Historiker schätzen, dass allein während des Maji-Maji-Aufstands und in seinem Gefolge zwischen 250 000 und 300 000 Menschen umgekommen sind”
Da verwundert es nicht, dass die Studierenden 1967 und 1968 nur ungern ein Denkmal eines ehemaligen Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika und Befehlshaber der “Schutztruppen” vor ihrer Universität stehen haben wollten.
Quellen:
Morlang, Thomas. 2006. “Die Wahehe haben ihre Vernichtung gewollt.” Der Krieg der “Kaiserlichen Schutztruppe” gegen die Hehe in Deutsch-Ostafrika (1890-1898). In: Klein, Thoralf und Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus. Hamburg: Hamburger Edition, 80-108.
Zeller, Joachim. Zeller, Joachim. 2000. Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewusstsein. Eine Untersuchung der kolonialdeutschen Erinnerungskultur. Frankfurt: IKO Verlag für interkulturelle Kommunikation.
Deutsches historisches Museum, Biographie Wissmanns. https://www.dhm.de/lemo/biografie/hermann-wissmann
Links:
Projekt der Uni Hamburg: 50 Jahre Denkmalsturz
https://www.kolonialismus.uni-hamburg.de/2018/10/30/50-jahre-denkmalsturz-der-sturz-des-wissmann-denkmals-an-der-universitaet-hamburg-1967-68/