Afrikanistik heute
Die Afrikanistik heute
Im Jahre 2003 entstand für die Afrikanistik durch die gleichzeitige Emeritierung der Professoren Ludwig Gerhardt und Siegbert Uhlig die unglückliche Situation einer doppelten Vakanz. Mechthild Reh fiel es als einziger verbliebener Professorin hierbei nicht nur zu, die Geschäfte und den Lehrbetrieb eines Drei-Professuren-Fach im Alleingang aufrechtzuerhalten. Zudem musste nun in verschärftem Maß darum gekämpft werden, die Gefahr der geplanten Abschaffung der Afrikanistik abzuwenden, denn inzwischen wurde – gesteuert von der Doktrin kurzfristiger ökonomischer Verwertbarkeit – auf Umsetzung des „Dräger-Dohnanyi-Plans“ gedrungen, der eine Reduktion des Stellenumfangs der Hamburger Geisteswissenschaften um 50% vorsah. In diesem Kontext blieb die Wiederbesetzung beider afrikanistischer Professuren jahrelang blockiert, was das Fach in Forschung und Lehre erheblich geschwächt hat. Bereits zuvor hatte sich abgezeichnet, dass die kulturelle Marginalisierung Afrikas – trotz wirtschaftlicher Globalisierung – auch auf der lokalen Ebene der Hamburger Wissenschaftspolitik sowohl die Afrikanistik als auch die afrikabezogene Forschung innerhalb anderer Disziplinen an den Rand zu drängen drohte. So zerbrach der Sonderforschungsbereich „Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung“ in der Phase des ersten Verlängerungsantrags 2002/2003 u.a. an der Weigerung, bei drei der beteiligten Schlüsselprofessuren mit afrikanischem Schwerpunkt (Ethnologie, Vor- und Frühgeschichte, Geschichte) im Hinblick auf die absehbare Emeritierung der Stelleninhaber bereits frühzeitig für eine zügige und übergangslose Wiederbesetzung zu sorgen. Dies ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie von wissenschaftspolitischer Seite Interdisziplinärität und Internationalität in der afrikanistischen Forschung nicht nur nicht gefördert, sondern verhindert wurde.
Nach Streichung der Professuren, die Magnus Pétursson und Elmar Ternes innehatten, ist auch die Phonetik, die seit der Gründung des Phonetischen Laboratoriums durch Carl Meinhof im Jahre 1910 wichtiger Kooperationspartner der Afrikanistik war und unentbehrlicher Kernbereich aller sprachbezogenen Disziplinen ist, seit 2003 in Hamburg endgültig weggefallen. Hierdurch hat gleichzeitig das Fach der Allgemeinen Sprachwissenschaft seine institutionelle Verankerung verloren und die Universität Hamburg die zentrale Schaltstelle für sprachwissenschaftlich fokussierte Verbundforschung eingebüßt: ein Defizit, das VertreterInnen der Germanistik, Anglistik, Romanistik, Slavistik, Finno-Ugristik und Afrikanistik seither unter dem interdisziplinären Dach des „Zentrums für Sprachwissenschaft“, so weit wie möglich, zu kompensieren versuchen.
Nachdem die mehrjährige Blockade der afrikanistischen Stellen aufgehoben wurde, trat Roland Kießling 2006 die Nachfolge Ludwig Gerhardts an. Kießling war mit einer deskriptiven Grammatik des Burunge (Tansania) 1993 in Hamburg promoviert worden, hatte sich 1999 durch eine historisch-vergleichende Studie über die südkuschitischen Sprachen und Gesellschaften Tansanias habilitiert und nimmt durch seine Forschungen zu den Kameruner Graslandsprachen einen Strang wieder auf, den bereits Kähler-Meyer angelegt hatte. Darüber hinaus setzt er mit Projekten zum Taa (Khoisan) in Namibia und Botwana sowie zum Datooga (Nilotisch) in Tansania einen Schwerpunkt im Bereich der Dokumentation und Analyse bedrohter Sprachen Afrikas.
Der äthiopistische Teilbereich der Hamburger Afrikanistik hat sich trotz fünfjähriger Vakanz der Professur dank des Engagements des vormaligen Stelleninhabers Siegbert Uhlig weit über seine Emeritierung hinaus und dank der Exzellenz seines Nachfolgers Alessandro Bausi seit 2009 zu einem Zentrum der internationalen äthiopistischen Forschung entwickelt.
Die aus der vormaligen Assistentenstelle hervorgegangene Juniorprofessur erweist sich als ein geeignetes Sprungbrett für den afrikanistischen Nachwuchs: Auf ihr konnte sich von 2009 bis 2015 Henning Schreiber profilieren, bevor er 2016 die Nachfolge von Mechthild Reh antrat. Hier bringt er seitdem bei regionaler Spezialisierung auf den Bereich der westafrikanischen Mandesprachen innovative korpuslinguistische Ansätze ein und setzt die soziolinguistische Schiene der Afrikanistik fort. Ab 2015 ergänzt Raija Kramer auf der Juniorprofessur mit Forschungen zum Ful (Atlantisch), zum Fali (Adamawa) und zum urbanen Sprachkontakt in Kamerun das Profil der Hamburger Afrikanistik.
Seit Beginn des Bologna-Prozesses platziert die Hamburger Afrikanistik die drei historisch gewachsenen Hauptstränge ihrer Forschungs- und Erkenntnisinteressen auch sichtbar in der Lehre. Diese richten sich mit empirisch-deskriptivem Ansatz auf (a) die grammatischen und lexikalischen Strukturen afrikanischer Sprachen, (b) die Einbettung afrikanischer Sprachen in die kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Kontexte und (c) die afrikanischen Manuskriptkulturen, mit einer regionalen Spezialisierung auf das Horn von Afrika, insbesondere Äthiopien und Eritrea. Diese drei Schwerpunkte können seit 2007/08 als Profilbereiche innerhalb des Bachelor-Studiengangs „Afrikanische Sprachen und Kulturen“ studiert und unabhängig voneinander als drei separate Master-Studiengänge „Dokumentation und Analyse afrikanischer Spachen (Documentation and Analysis of African Languages“, „Afrikanische Sprachen im Kontext (African Languages in Context)“ und „Ethiopian Studies“ fortgeführt werden.
Die „Dokumentation und Analyse afrikanischer Sprachen“ steht seit den Anfängen der Afrikanistik im Vordergrund. Dies ist vor allem durch ein großes Defizit bedingt: bis zum heutigen Tag ist praktisch keine einzige der 1500 bis 2000 afrikanischen Sprachen in vergleichbarer Breite und Tiefe analysiert wie jede einzelne europäische Sprache. Obgleich auch die Hamburger Afrikanistik hier nachhaltige Leistungen in Form von grammatischen Monographien[1] und Wörterbüchern erbracht hat und in jüngsten Dokumentationsprojekten[2] auch weiterhin erbringt, sind seit den letzten 100 Jahren mehr als 100 namentlich bekannte afrikanische Sprachen ausgestorben, ohne auch nur in ihren Grundzügen erfasst worden zu sein. Daher besteht gerade hier nach wie vor ein sehr hoher Bedarf an Grundlagenforschung. Der Master-Studiengang „Dokumentation und Analyse afrikanischer Sprachen“ leitet genau hierzu an, indem er Studierenden die notwendigen sprachwissenschaftlichen Methoden, Konzepte und Fertigkeiten vermittelt. Darüber hinaus bilden elementare Methoden und Konzepte dieses Bereichs gleichzeitig die unentbehrliche Grundlage für die Erforschung der gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Dimensionen afrikanischer Sprachen, den zweiten Forschungs- und Studienschwerpunkt „Afrikanische Sprachen im Kontext“, der seit Gründungszeiten in der Hamburger Afrikanistik angelegt ist und durch Lukas‘ Arbeiten über afrikanische Verkehrssprachen (1942, 1943), McIntyres Arbeiten zur Soziolinguistik des Hausa (1980, 1981, 1983, 1984), Wolffs Studien zur Sprachkunst der Lamang (1980) und Rehs Arbeiten zu Sprachpolitik, Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit, Multiliteralität und Höflichkeit deutlich ausgebaut wurde. Die Fruchtbarkeit dieses Bereichs spiegelt sich in einer Vielzahl von Dissertationen, z.B. zur Mehrsprachigkeit bei den Nubi in Uganda (Cornelia Khamis 1994), zum Code-Switching zwischen Mandinka, Wolof und Englisch in Gambia (Delia Haust 1995) und zum trilingualen Code-Switching in Kenia (Nathan Ogechi 2002), sowie in Kießlings Arbeiten zu den Kommunikationspraktiken der urbanen Jugend Afrikas und den soziolinguistischen Netzwerkforschungen von Schreiber (Burkina Faso) und Kramer (Kamerun). In diachroner Blickrichtung geht es in diesem Bereich um den Sprachwandel und die Rekonstruktion kultur-, gesellschafts- und siedlungsgeschichtlicher Wandlungsprozesse aus dem sprachlichen Befund, wie dies seit Meinhofs vergleichenden Arbeiten zur Bantuistik zum Zentralprogramm der Hamburger Afrikanistik gehört und z.B. in Studien zu den zentralnigerianischen Plateausprachen (Gerhardt 1967, 1983), zum Wolof (Becher 2001) und zum Südkuschitischen (Kießling 2002) fortgesetzt wird. In diesem Sinne leitet der Master-Studiengang „Afrikanische Sprachen im Kontext“ zur Analyse afrikanischer Sprachen als Kommunikationsmedien in ihren kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Bezügen an. Über eine Ausbildung in grundlegenden sprachwissenschaftlichen Analyseverfahren hinaus ist hierzu die Vermittlung soziolinguistischer, diskurslinguistischer und kulturwissenschaftlicher Methoden nötig.
Der dritte afrikanistische Forschungs- und Studienschwerpunkt „Ethiopian Studies“ stellt eine philologische Spezialisierung dar, die dem Themenkreis des zweiten Bereichs „Afrikanische Sprachen im Kontext“ entkoppelt ist. Die philologische Arbeit mit afrikanischen Handschriften ist seit Klingenhebens Studien des Vai (1925/26, 1933), Meinhofs Untersuchungen zum Liongo-Lied (1924/25), einer ostafrikanischen Heldensage, und seit Dammanns Arbeiten zu Swahili-Manuskripten („Dichtungen in der Lamu-Mundart des Suaheli“, 1939) in der Afrikanistik verankert. Dies wird seit Hammerschmidts (1973, 1977) und Uhligs (1981, 1985) Arbeiten über Ge'ez-Handschriften mit Spezialisierung auf den äthiopischen Bereich fortgeführt, was die Regionalwissenschaft Äthiopistik in Hamburg etabliert hat. Seit Einrichtung des Sonderforschungsbereichs 950 „Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa“ 2011 erfährt die kulturlinguistische Ausrichtung der Afrikanistik eine Verstärkung durch manuskriptologisch orientierte Teilprojekte mit Schwerpunkten in Westafrika (Bondarev), Äthiopien (Bausi) und Ostafrika (Kießling).
Als kleines Fach ist die Afrikanistik – über die Beschickung der bodenständigen B.A.- und M.A.-Studiengänge hinaus – mit einer Vielzahl weiterer Studiengänge interdisziplinär vernetzt und leistet regelmäßigen Input z.B. zu den Studiengängen „Allgemeine Sprachwissenschaft“ (ASW), „English as a World Language“ (ENGAGE), „Mehrsprachigkeit und Bildung“ (MOTION) und „Manuscript Cultures“.
Um einen angemessenen Überblick über die Vielfalt sprachlicher Strukturen und kommunikativer Praktiken in Afrika zu erhalten, ist es von zentraler Wichtigkeit, grundlegende Kenntnisse in einer möglichst großen Zahl afrikanischer Sprachen zu erwerben. Während der Sprachunterricht in der Kolonialzeit in erster Linie die Funktion hatte, praktische Kenntnisse zur konkreten Anwendung in den Kolonien zu vermitteln, liegt der heutige Zweck neben dem Spracherwerb vor allem auch in der Illustration sprach-, kultur- und kommunikationswissenschaftlicher Konzepte und Zusammenhänge. Seit 1910 wurden an der Hamburger Abteilung – neben den bis heute durch feste Stellen verankerten Sprachen Swahili, Hausa, Amharisch und Ge’ez – folgende Sprachen von afrikanischen Lektoren, die vor 1961 als „Sprachgehilfen“ firmierten, oder auch Gastprofessoren gelehrt: Duala, Bafut, Ewe, Ewondo, Ful, Oromo, Somali, Tigre, Tigrinya, Twi, Vai, Yoruba. Nachdem Lukas in den 1960er und 1970er Jahren vor allem die Stellen für afrikanische Lektoren ausgebaut hatte – zeitweilig wurden Swahili, Hausa, Ewe, Amharisch, Oromo und Duala gleichzeitig unterrichtet –, mussten im Zuge von Sparmaßnahmen seit den 1980er Jahren diese Stellen drastisch abgebaut werden. Heute werden durch etatisierte Lektorate drei Sprachprofile angeboten, mit denen gleichzeitig regionale Schwerpunkte in Afrika gesetzt werden: Amharisch und Ge’ez (Äthiopien) durch Getie Gelaye bzw. Maija Priess, Hausa (Nigeria) durch Umma Aliyu Musa, Swahili (Tanzania, Kenia, Uganda) durch Uta Reuster-Jahn. Das Amharische, Staatssprache Äthiopiens, und das Ge’ez, klassische Sprache des altäthiopischen Reichs und liturgische Sprache der äthiopisch-orthodoxen und eritreisch-orthodoxen Kirche, eröffnen den Zugang zu Geschichte, Kulturen und Religionen Äthiopiens und Eritreas. Das Hausa, wichtige National- und Verkehrssprache Nordnigerias und Nigers, erschließt große Teile des zentralen Westafrika; und das Swahili, kooffizielle Sprache in Tanzania, Nationalsprache in Kenia und Uganda und als Verkehrssprache auch im Ost-Kongo, Ruanda, Burundi, Somalia und Mosambik verbreitet, eröffnet den Zugang zu den ostafrikanischen Kulturen.
[1] So z.B. für Duala (Meinhof 1912), Ful (Klingenheben 1927, 1963), Mambila (Kähler-Meyer 1939/40), Kanuri (Lukas 1937), Tubu (Lukas 1953), Balese (Vorbichler 1964), Mamvu (Vorbichler 1971), Berber (Willms 1972), nigerianische Klassensprachen (Gerhardt 1967, 1974), Musgu (Meyer-Bahlburg 1972), Kinyarwanda (Sibomana 1974), Lamang (Wolff 1980, 1983), Anywa (Reh 1996, 1999), Burunge (Kießling 1994), Iraqw (Kießling 1998) und Isu (Kießling 2011), Bezen (Kempf 2017).
[2] So z.B. zum Kyanga und Shanga (Nigeria), Bayso und Haro (Äthiopien), Bezen (Kamerun) und Datooga (Tanzania).